„Du nimmst mich nicht ernst“, begann Clara ihre ihr nächstes nachmittägliches Vieraugengespräch. „Doch“, entgegnete er kraftlos und fühlte sich ertappt, aber sie überging ihn. „Einem alten Menschen, der dem Tode schon so nah ist wie ich, etwas vormachen zu wollen, ist sinnlos. Es gelingt mir ja nicht einmal mehr, mir selber etwas vorzumachen. Die Menschen, die sich schon viel früher aus dem Leben schleichen, ersparen sich, wie die bitteren Wahrheiten erst häppchenweise und dann in schweren Bocken in den eigen Kopf fallen und sich dort suhlen. Klarheit zu finden ist immer schmerzvoll, mein Lieber.“ Mark schien zunächst, sie verwechsele ihn mit Peer, ihrem Sohn, in dessen Haus sie lebte. Sie legte aber ihre Hand auf seinen Arm und sah ihn an. Ihr Blick war ausgerichteter als an den Vortagen und voller Zuneigung und Wärme. „Wie sehr du meinem Vater, also deinem Urgroßvater, ähnelst, ist erstaunlich. Ja, ich wollte dir noch mehr von ihm erzählen, gerade dir, seinem Ebenbild fast. Was auch immer es bedeuten mag, dass ich dich, so aussehend, wie der Mensch, den ich am meisten geliebt habe, noch kennen lernen darf.“
Sie lehnte sich zurück und schloss ihre Augen. Die Stille ließ sich mit den Händen greifen und war doch so leicht. Sie ließ auch Mark tiefer in den Sessel sinken. Wärme durchströmte ihn.
Als Klara sich in ihrer Entspanntheit wieder regte, machte sie Anstalten aufzustehen und Mark kam ihr zu Hilfe. Er fasste sie unter dem Arm, stütze sie so ab und ging mit ihr in die Richtung, die ihm ihr anderer Arm wies. Als sie vor der alten Kommode ankamen, fiel es Klara schwer sie zu öffnen. So bat sie Mark, dies zu tun. Und während sie aufrecht stand, beugte er sich über die geöffnete Schublade und suchte nach Klaras Anweisungen ein bestimmtes Foto seines Urgroßvaters. So glitten Fotos durch seine Hände, wie Familienfotos jener Tage so zu sein pflegten. Hochzeitsgesellschaften, Männer in Uniform, abgerissen gekleidete Nachkriegmenschen und wieder fein arrangierte, kleinere und größere Menschengruppen, ernst dreinschauend. Nichts Besonderes. Und doch. Hier war es wieder. Mark beschlich dies Gefühl der eigenen Fremdheit und gleichzeitig spürte er die besondere Situation, der er sich nicht entziehen konnte. Sein Blick fiel auf Fotos, in denen er die Gesichter seiner beiden Töchter zu entdecken glaubte. Aber es waren Kinder längst vergangener Zeiten und er traute sich noch nicht einmal, Clara zu fragen, wer es gewesen war. Er hielt es in den leicht zittrigen Händen. Dies hier war ein großer Teil seiner Familie, die ihm bisher vorenthalten worden war. Für einen Moment verspürte er den Impuls, Clara nach den Gründen zu fragen, doch dann erschien es ihm der falsche Zeitpunkt zu sein.
Dies sei das gesuchte Foto, rief Clara und verlor dabei das Gleichgewicht. Mark sprang hinzu, fing sie auf und führte sie zum Sessel. Noch nie war er der alten Lady so nah gewesen. Ihr Geruch schien ihm eigentümlich vertraut. Er holte das Foto und reichte es ihr. Claras Blick wanderte mehrmals von dem Foto in ihren Händen zu Mark, der ihr wieder schräg gegenüber saß und zurück. In den Augen der alten Frau glich sich der Blick auf ihren Enkelsohn immer mehr dem liebevollen Blick auf das Foto ihres Vaters an. Sie reichte ihm das Foto. Minutenlang schaute er sprachlos. Clara bat ihn schließlich, ihr eine Tasse Tee zu holen. Als er sie ihr brachte, lächelte sie ihm entgegen.